Der Tag meines Erwachens aus einem sehr tiefem und langem Delirium, welches mich bereits mein ganzes Leben ermüdet hat, war keiner wie jeder andere.
Als ich am 19.02.2020 erwachte, bemerkte ich, dass ich Staatsbürger Deutschlands bin.
Ich erschrak.
Am 19.02.2020 wurden im hessischen Hanau 10 Menschen erschossen. In diesem Fall reicht es jedoch nicht von Menschen zu sprechen, da es sich um Menschen handelt, die als etwas identifiziert wurden, als dass sie sich selbst nicht sahen.
Etwas Besonderes, Auffälliges, Anderes. Etwas Fremdes. Etwas Minderwertiges.
Der 19.02.2020 ist nicht nur der 19.02.2020, sondern der Zustand dieses Landes. Es ist ein Ereignis von Vielen: Adriano, Oury Jalloh, Halim Dener, Walter Lübcke, der NSU und der NSU 2.0. Der 19.02.2020 ist nicht von diesen Ereignissen, dem Zustand dieses Landes zu trennen.
Unseres Landes, ob wir wollen oder nicht.
Wie es um unser Land steht? Ein Nazi besitzt Waffen, trotz psychischer Krankheit, kann sich ohne Sorgen und Ängste bewegen und dann auch noch ein Attentat planen und umsetzen. Bei der Umsetzung konnte er sich sicher sein, dass er alles ohne Probleme durchführen kann. Den Eindruck bekommt man, wenn man sich die Überwachungsvideos der Lokale in Hanau anschaut. Er geht spazieren. Mit zwei Waffen in der Hand. Um migrantische Menschen zu töten. Er scheint es nicht eilig zu haben. Er schafft es nach Hause, tötet seine Mutter und anschließend sich selbst. Die Polizei trifft dort Stunden später ein.
Anschließend trauert die Nation, zwei Tage lang und geht anschließend zum Tagesgeschäft über.
Am 23.02.2020 fanden sich Hanau und Rassismus nicht mehr in den größeren Nachrichtenformaten wieder. Das Coronavirus tat den Rest. Seitdem schweigt die deutsche Mehrheitsgesellschaft.
Ich glaube, dass es unserem Land nicht gut geht und sich niemand um unser Land kümmern möchte. Weil sich niemand um uns kümmern möchte. In Gesprächsrunden ist der Rassismus präsent, aber nicht Thema. Und irgendwie werde ich dieses sehr ekelige Gefühl nicht los, dass die deutsche Mehrheitsgesellschaft gerne so weitermachen möchte und sich nichts ändern soll.
Was interessiert es eine junge, weiße, deutsche Frau aus der dörflichen Region, ob in Hanau 10 Menschen aufgrund ihres “fremdländischen Aussehens“ abgeknallt wurden? Oder “orientalischen Aussehens“? Das macht die Sache auch nicht besser und Ausnahmen bestätigen bekanntlich die Regel. Die Frau kann ihr Leben genießen, sich einen akademischen Titel erarbeiten und eine Leitungsfunktion in einem großem Betrieb einnehmen. Sie könnte sich im Patriarchat durchsetzen, sich anpassen und ein glückliches Leben führen. Die 10 Menschen, eventuell sind es für sie nur Kanacken, spielen dabei in keiner Weise eine Rolle. Sie juckt es nicht. Diese Ignoranz durchzieht die Gesellschaft. Die Chef*innenredaktion des Stern-Magazins hat es tatsächlich zustande gebracht nicht eine Seite für Hanau freizuräumen. Am 18.02.2021, ein Tag vor dem 19.02.2021, fand sich kein Wort über Rassismus, die Opfer, den Täter oder die Tat als solche in einem der größten Magazine Deutschlands. Das bekommst Du nur hin, wenn du weiss und deutsch bist. Und es nicht weißt.
Am 19.02.2020 begannen wir zu verstehen, dass es kein Wir gibt, sondern viele Ihr‘s. Parallelgesellschaften ohne Ende: der Bonze in seiner Villa am Stadtrand, die Bürgis in ihren Häusern mit schönem Garten, die Angestellte mit schöner Wohnung im Viertel der Bürgis, die Arbeiterin in ihrem Arbeiter*innen-Viertel, der Arbeitslose neben ihr. Ökonomische Spaltung gab es in der industrialisierten Welt immer.
Und dann gibt es noch den größten Zwiespalt unseres Landes: migrantische Menschen, die andere Namen oder ein anderes Aussehen haben und deutsche Menschen, die...
Folgendes Problem im Text: warum denn bitte “andere Namen“ und “anderes Aussehen“? Wozu das andere? Eine sehr kluge Philosophin aus Frankreich, Simone De Beauvoir, nannte ihr Hauptwerk “Das andere Geschlecht“ und traf den Nagel auf den Kopf. Darin führt sie historisch und mit wissenschaftlicher Expertise aus, dass Männer immer Frauen als das Andere benötigen, um das Männliche zu definieren. Tauschen wir das Wort “Männer“ mit Deutsche und “Frauen“ mit Migranten, so stellen wir fest: Simone hat den Nagel auf den Kopf getroffen. Deutsche benötigen Migranten immer, um ihr Deutschsein zu definieren. Das Migrantische ist notwendig, damit das Deutsche die eigene traurige und leider nicht vorhandene Identität legitimieren kann. Es geht nicht gegen Deutschland, also dem Land in dem wir leben und das unser Land ist, sondern gegen das Deutsche. Einem Konstrukt, welches keinerlei Bedeutung hat, außer ihm wird Bedeutung beigemessen.
Was mir, und vielen anderen Nicht-Deutsch-Aussehenden, vor dem 19.02.2020 bereits auffiel, war Folgendes: ich wurde oft gefragt, wo ich herkomme. Also so wirklich. Also meine Eltern. Wo meine Wurzeln halt liegen. Nicht böse gemeint natürlich. Diese Frage nach meiner Identität, stellte ich mir nicht selbst. Sie kam immer von außen. Ich wurde mit meinem Anders-Aussehenden mein ganzes Leben konfrontiert. Ich wollte das nicht und bat nie darum. Ich kam auf die Welt als Mensch und wurde zum Anderen gemacht. Durch Euch. Durch Deutsche.
Als ich das erste Mal eine Universität betrat, hatte ich die Hoffnung, dass es im Raum der Wissenschaftlichkeit keinen Platz für Nicht-Reflektiertheit gibt. Falsch gedacht, denn auch dort wurde ich damit konfrontiert, dass ich offensichtlich nicht-deutsch bin und nur nicht-deutsch sein kann. Da ich in einer für mich fremden Stadt studierte, hoffte ich, dass die richtige Antwort, also Hannover, reichen würde. Diese Hoffnung wurde schnell durch ständiges Nachhaken meines Gegenübers zunichte gemacht. Meine Mutter hat immer gesagt, dass ich immer das Doppelte geben müsste. Doppelt-richtig musste es also auch sein.
Und so entschloss ich mich irgendwann dazu, dass ich die Frage nach meiner eigentlichen Herkunft beantworte, aber von meinem deutschen Gegenüber wissen will, wo sie denn ursprünglich herkommt. Also wirklich.
Im Kern geht es nämlich bei der Frage nach meiner Herkunft nicht um mich, sondern um die Unwissenheit meines Gegenübers über die eigene Herkunft. Also fragt euch, wo ihr herkommt, bevor ihr es Menschen fragt, die sich seit Jahrzehnten mit dieser Frage auseinandersetzen müssen.
Wenn wir Nicht-Deutsch-Aussehende, als legitimer Bestandteil Deutschlands, aufgrund unseres Aussehens nicht-deutsch sein können, weil Menschen mit deutschem Aussehen dieser Auffassung sind, so muss ich sagen: Deutschland schafft sich ab. Kein Scheiß. Weil nämlich Deutschland mit Deutschen nicht-deutschen Aussehens, die nicht Deutsch sein können wegen ihres Aussehen, ein Paradoxon ist. Um es auf den Punkt zu bringen: Deutschland kann sich ficken gehen.
Das Anders-Sein kann bei persönlichen Begegnungen von Vorteil sein, aber es ist niemals ein Privileg. Kein migrantisch-gelesener Mensch namens Frau Kurtovic oder Herr Hashemi erhält aufgrund des Namens oder Aussehens den Vorrang auf die Wohnung. Eher im Gegenteil: wenn Herr Müller da ist, kann Herr Hashemi sich an einem anderen Ort etwas suchen. Am besten da, wo Frau Kurtovic lebt. Gelebter, struktureller Rassismus. Herr Müller weiß davon nichts und will es nicht wissen. Er will die Wohnung. Und nicht den hauseigenen Rassismus der weissen, deutschen Mehrheitsgesellschaft verstehen.
Deutsch-Sein heißt, sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen, was oder wer man ist, weil es kein Außen gibt, welches eine*n Deutsche*n hinterfragt. Deutsch-Sein heißt, Macht zu haben. Es bedeutet Vorteile gegenüber seinen migrantischen Mitmenschen zu haben, ohne etwas dafür getan zu haben, außer nichts zu tun.
Nicht-Deutsch gelesene Menschen, wir lebten lange in dem Glauben, dass wir gleichberechtigte Bürger*innen dieses Landes seien und somit die gleichen Rechte, Privilegien und Chancen hätten, wie Deutsch-Gelesene Menschen in Deutschland. Aber uns wird langsam klar, dass es eine Lüge ist.
Migrantische Menschen müssen sich bewusstwerden, dass sie und ihre Kinder nicht die gleichen Chancen haben und auch nicht haben sollen. Ein weiterer Beweis dafür sind die Vornamen führender Politiker*innen: Dietmar, Sigmar, Thomas, Angela, Bodo, Wolfgang, Kathrin, Christina, Peter, Anja, Martin, Heiko, Gerd, Claudia, Petra, Alice, Ralf, Gregor, Horst, Karl “coole Fliege“ Lauterbach und ganz viele andere Almans. Die Lüge der Chancengleichheit zeigt sich auf eine subtile Art und Weise, die es zu erkennen gilt. Wenn wir dies nicht schaffen, so wird es niemals dazu kommen, dass wir die gleichen Chancen haben. Wenn ich in die Jugendverbände blicke, sehe ich wenig Hoffnung auf eine Verbesserung dieses Zustands.
Die Hoffnung vieler Menschen ist und bleibt weiss und deutsch.
72 Jahre ist diese Republik nun alt und sie hat es in all der Zeit nicht geschafft, dass verschiedenste Bevölkerungsgruppen nicht anständig repräsentiert werden. Warum mal nicht eine Kanzlerin namens Aylin? Solange es keine anständige, funktionierende, demokratische Repräsentation der gesamten Bevölkerung gibt, gibt es keine repräsentative Demokratie. Vielleicht schafft es die Republik in den nächsten 72 Jahren? Dazu wird sie wohl unsere Hilfe brauchen. Von selbst passiert nichts.
Am 19.02.2020 begann ich mich von Euch, meinen deutschen Mitmenschen, abzugrenzen.
Ich bin kein Deutscher und werde es nie sein.
Ich will es überhaupt nicht sein. Besonders dann nicht, wenn ihr es seid.
Diesen Ekel möchte ich nicht empfinden. Es ist nicht so, dass migrantische Menschen Morde an ihren Mitmenschen deutschen Aussehens begehen, weil sie sich als etwas Höherwertiges sehen oder die Shoa begangen haben.
Innehalten, nachdenken, fühlen. Was passiert hier?
Hoffnungslose Wut ergreift mich bei dem Gedanken an die Zukunft.
Was auf lange Sicht und im Ganzen gesehen gut für uns sein wird, weiß ich nicht. Was ich aber weiß: weiss werde ich nicht.
Hoffnungslosigkeit ergreift mich, ich werde wütend.
Nicht auf meine deutschen Mitmenschen, sondern auf mich.
Wie kann das sein?
Es bleibt vieles im Dunkeln und nur gemeinsam können wir die Dunkelheit besiegen.
Ich habe geweint.
Am 19.02.2020 habe ich bitterlich geweint, weil ich es hätte sein können.
Oder meine Schwester oder ein Cousin oder mein Bruder oder noch irgendwer mit migrantischer Identität. Auch deutsch-aussehende Menschen können von den Kugeln eines Nazis getroffen werden, aber es ist einfach Fakt, dass es höchst unwahrscheinlich ist. Stattdessen sind es Menschen nicht-deutschen-Aussehens, migrantische Menschen, die es treffen soll und die getroffen wurden. Ich denke an all jene, die nichts dafürkonnten. Ich weine. Ach, du süße Bitterkeit, was machst Du nur mit uns.
Gökhan, Sedat, Mercedes, Villi, Fatih, Ferhat, Kaloyen, Said und Hamza: ich glaubte nie an einen Himmel, aber falls es ihn gibt, so glaube ich fest daran, dass ihr einen Platz dort sicher habt.
Frei von Glauben, Herkunft, Lebenszielen, Hautfarbe, Haarfarbe, Geschlecht und anderen Kategorien, die sich der weisse Mensch ausgedacht hat. Einfach nur Mensch sein. Schade, dass es diese Möglichkeit erst nach dem Tod gibt.
Ich lese diesen Text rauf und runter. Rauf und runter. Rauf und runter.
Inzwischen sitze ich seit drei Wochen an ihm und weiß nicht, was ich damit machen soll. Löschen? Wegwerfen? Vergessen? Keine Option, weil ich etwas tun möchte. Wenigstens eine Kleinigkeit, vielleicht lesen und hören diesen Text zehn Menschen. Und drei Menschen denken sich: oh Mensch, das geht aber so nicht. Ich wäre stolz auf mich. Deshalb muss er existieren. Auch wenn der Text immer ungenügend sein wird, weil er all das Leid der Angehörigen und das Mitgefühl vieler Menschen nicht zum Ausdruck bringen kann. Es reicht. Hier soll das Ende sein, wo eigentlich keines sein darf.
Ich möchte noch einige wenige Worte an die Angehörigen und Betroffenen richten: es gibt etwas in dieser Welt, das sich niemals verändern wird und vielen Menschen innewohnt. Es ist etwas Gutes, dass Gutes in dieser Welt bewirkt. Viele Menschen kämpfen dagegen und wollen es nicht annehmen. Obwohl es ein Teil von ihnen war, ist und sein wird. Von allen Menschen auf dieser Welt. Es ist die Liebe.
Die Liebe wird nie verschwinden. Sie wird sich immer dann zeigen, wenn ihr sie braucht und immer da sein, auch wenn ihr nicht an sie denkt. Sie wird jedem Menschen bei der Geburt mitgegeben und begleitet uns ein Leben lang. Es gibt Momente, da verflucht man sie und Momente, in denen sie uns verflucht.
Doch sie bleibt, ob wir wollen oder nicht.
Ich glaube fest daran, dass Gökhan, Sedat, Mercedes, Villi, Fatih, Ferhat, Kaloyen, Said und Hamza diese Liebe spüren, auch wenn sie nicht mehr bei Euch sind.
Sie spüren Eure Kraft und Zuversicht und lieben Euch dafür. So wie wir alle es tun.
Ich bin dankbar, dass ihr die Liebe lebt. Sie treibt Euch an in Eurem Kampf für Gerechtigkeit, Recht und Frieden. Menschen, die solche Taten begehen, haben die Liebe nie erkannt. Sie lebten ein Leben ohne wirkliche und wahrhaftige Liebe. Lasst sie euch nicht nehmen!
Wir kämpfen mit Euch gegen diese lieblose und menschenverachtenden Ideologie. Gegen das Schweigen und Vergessen.
Say their names.
Immer und überall!
Foto © Ehimetalor Akhere Unuabona
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